Erschütternde Berichte und lebhafte Debatte +++ Podiumsdiskussion über das Ankunftszentrum Tegel +++ mit Tareq Alaows (Pro Asyl) u.a.

Das Netzwerk „Reinickendorf aktiv für Demokratie und Vielfalt“ veranstaltete am 23. September im Interkulturellen Zentrum Linde eine Podiumsdiskussion, in der es um die Situation in den Flüchtlingsunterkünften auf dem ehemaligen Flughafengelände Tegel ging. Der ehemalige Kirchenraum war mit etwa 50 Interessierten gut gefüllt. Unter dem Motto „Jenseits von Lagern – Menschenwürdige Alternativen zur Unterbringung von Geflüchteten im Ankunftszentrum Tegel“ informierten die Podiumsgäste über die drängendsten Probleme in der provisorischen Unterkunft.

Samim S., ein ehemaliger Bewohner, beschrieb, dass er wie viele andere Tausende Kilometer gelaufen sei, um in ein demokratisches Land zu kommen, wo er Rechte habe. In Tegel sei er anstatt dessen „wie ein Gefangener“ behandelt worden. Das Essen sei ungenießbar und die Sanitäranlagen drastisch unhygienisch gewesen. In den mit gut 14 Menschen geplanten und überfüllten Waben sei an Schlaf kaum zu denken gewesen.

Nach Einschätzung von Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl, soll die Unterkunft in Tegel so schrecklich sein, um abzuschrecken. Dabei flöhen Menschen vor Kriegen und nicht aus Abenteuerlust.

Emily Barnickel vom Berliner Flüchtlingsrat kritisierte, dass in Tegel dauerhaft die UN-Kinder- und Behindertenrechtskonventionen missachtet werden. Nur ein Bruchteil der Kinder werde beschult. Sie betonte: „Den Kindern wird das Recht genommen, sich kindgerecht zu entwickeln und hier eine Kindheit in Frieden und mit Rechten zu haben.“ Der Bus, der die Bewohnenden ins Lager fährt, sei außerdem teilweise nicht barrierefrei oder so eng, dass Menschen mit Hilfsmitteln ihn nur mit zusätzlicher Unterstützung nutzen können.

Andreas Rietz, vom Netzwerk Willkommen in Reinickendorf, zeigte sich erschüttert über die Berichte der Bewohnenden. Er kritisierte, dass die Unterkunft in Tegel gegenüber der Zivilgesellschaft abgeschottet werde. „Tegel ist für uns eine no-go-area, wir kommen da kaum rein.“

Ehemalige Bewohnende und Mitarbeitende berichteten am offenen Mikrofon über ähnliche Erfahrungen. Viele kritisierten, dass ihnen weder von den Mitarbeitenden der Unterkünfte noch in den Ämtern geholfen werde.

In der anschließenden Diskussion ging es um die Frage, wie es sein kann, dass eine Struktur aufrecht erhalten wird, die fast zehnmal so viel kostet wie eine normale Gemeinschaftsunterkunft. Tareq Alaows rechnete vor, dass mit den 1,5 Milliarden, die bisher für die Unterkunft in Tegel ausgegeben wurden, ganze Straßenzüge neu errichtet werden könnten. Emily Barnickel forderte, der Senat solle einen Wohnungsnotstand ausrufen und mithilfe des Sonderbaurechts den Bau selbst in die Hand nehmen. Zudem betonten beide, dass es Möglichkeiten gebe, die genutzt werden könnten wie die gut 1000 Monteurswohnungen der Belinovo oder leerstehende Wohnungen. Auch durch Vereinfachung von Untervermietung und polizeilicher Anmeldung auch ohne Wohnungsgeberbescheinigung könne der Zugang zu Wohnraum erleichtert werden. Auch bräuchten die Sozialen Wohnhilfen Erstzugriffsrechte auf Neuvermietungen und das Projekt Housing First sowie das geschützte Marktsegment müssten aufgestockt werden.

Gabriele Biwanke-Wenzel vom Netzwerk Reinickendorf Aktiv für Demokratie und Vielfalt! kommentiert: „Es ist eine Schande, dass wir derartige Zustände mitten in der Hauptstadt so lange dulden. Die Öffentlichkeit schaut seit Monaten weg. Es ist uns wichtig zu betonen, dass diese Zustände kein Sachzwang sind, sondern geändert werden können und müssen. Alle Menschen haben ein Recht auf ein Leben in Würde, egal was ihr Aufenthaltsstatus ist.“

Johanna Herzog vom Netzwerk ergänzt: „Gerade im Kontext der aktuellen Debatte, in der Politiker*innen der demokratischen Parteien versuchen, die AfD rechts zu überholen, in der das Recht auf Asyl in Frage steht, ist es uns immens wichtig einen menschenrechtsorientierten Standpunkt zu vertreten. Das gilt überall, aber wir haben in Deutschland aufgrund der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen darüber hinaus eine besondere Verantwortung. Die wird auch nicht weggehen. Diese historische Verantwortung hat kein Verfallsdatum.“